Heute, am 15. Januar, fahre ich zum Nachbardorf von Leukerbad, nach Albinen, walliserisch „Albinu“ genannt. Eine halbe Stunde lang dauert die Fahrt mit dem Bus auf einer meist einspurigen Strasse und durch einen Tunnel Richtung Südosten. Albinen liegt an einem steilen Hang auf 1274 m über dem Meeresspiegel – ca. 140 m niedriger als Leukerbad – mit einer herrlichen Aussicht auf das sich nach Westen öffnende Rhonetal. Wegen der längeren Abendsonne und dem besseren Schutz vor dem Nordwind ist das Klima hier milder als in Leukerbad. Dies erlebe ich auch heute: Während in Leukerbad ein stürmischer Gemmiwind aus dem Norden bläst, ist es in Albinen windstill.
In einem Vereinslokal über der Garage der Feuerwehr trifft sich heute die Seniorengruppe „60plus“ zu einem Vortrag über Albinen einst und heute. Basil Mathieu, ein über 80-jähriger Albiner erzählt den ungefähr 90 Zuhörenden von seinem Dorf, das heute etwa 250 Einwohnende zählt. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es ca. 400, und die Grösse der Gemeinde umfasst bis heute 1540 ha. Davon war ein Drittel mit Wald bedeckt. Hier lebten bereits um 100 v. Christi Kelten, wie Funde von Gräbern aus der Zeit beweisen. Urkundlich wurde Albinen zum ersten Mal im Jahr 1224 erwähnt. Die zwei Weiler in der Nähe Tschingeren und Dorben gehören dazu. Die Gemeinde wurde anfänglich „Dorben-Albinen“ genannt, denn in Dorben befand sich das Gemeindehaus. Das politische Schwergewicht verlagerte sich erst nach 1350 nach Albinen.
Im Winter gab es jeweils bis zu 130 cm Schnee, der das Dorf oftmals für eine Woche von der Umwelt abschnitt. Die Transportmittel waren Holzski und breite Holzschlitten, die an den Aussenwänden der Häuser aufgehängt wurden. Die Häuser bestehen aus Holz und Stein, die Wände wurden mit gebranntem Kalk befestigt. Zu der Zeit gab es noch kein Zement, sondern eine Kalkbrennerei. Es gab Kalköfen, die zum Bedauern des Erzählers leider nicht restauriert wurden und schon lange nicht mehr funktionieren.
Es gab einen Schreiner und drei bis vier Schuhmacher. Jede Familie hatte mindestens eine Kuh, eine Ziege, manchmal auch einige Schafe, sowie Obstbäume – Äpfel, Birnen und Zwetschgen – und Reben im 12 km entfernten Dorf „Varen“, das als Sonnenterrasse 135 m über dem Rhonetal auf 760 m über dem Meeresspiegel liegt und den Anbau von Reben ermöglicht. Hier wurde der Wein gekeltert und gelagert. Maultiere trugen ihn jeweils in zwei länglichen Fässern hinauf nach Albinen. Jedes Fass konnte mit 75 l Wein gefüllt werden. Diese Masseinheit wurde „Lagel“ genannt. In Albinen gab es mindestens 20 Maultiere.
Der Roggen wurde in den Stadeln, die wie Holzhäuser auf Stelzen aussehen, „mäusesicher“ gelagert und im Winter gedroschen.
Das Leben richtete sich nach den Jahreszeiten. Im Sommer und Frühherbst wurde alles zum Überleben im Winter besorgt. Obst wurde gedörrt oder als Marmelade verarbeitet. Auch Schnaps wurde gebrannt. Eine Spezialität und zugleich Medizin war der „Jenziner“. Er wurde aus der Wurzel des gelben Enzians gebrannt. Das ist heute verboten, wird aber trotzdem manchmal noch gemacht. Es hiess: Wenn du genug Kartoffeln, Holz und Futter für die Tiere hast, kannst du durch den Winter kommen. Die Kartoffeln wurden in einem Loch im Naturboden des Kellers gelagert. Brot wurde nur viermal im Jahr gebacken und sehr hart gegessen. Während der langen Winterabende wurde nicht nur Wolle, sondern auch Geschichten „gesponnen“, darunter auch folgende:
„Es hiess, dass sich am 13. Januar, am Tag des heiligen Hilarius, die Seelen der Menschen, die im Verlaufe des Jahres sterben werden, sich um Mitternacht in der Kirche treffen. Josi habe sich einmal vorgenommen, der Sache auf den Grund zu gehen. Er liess sich am Hilariusabend vom Sakristan unbemerkt in der Kirche einschliessen und machte es sich so gut wie möglich auf der Empore gemütlich. Trotz der grossen Kälte schlief er ein. Der Glockenschlag an Mitternacht weckte ihn und er sah unten in der Kirche eine brennende Kerze und zwei Gestalten. Eine davon setzte sich in eine Bank und begann mit dem Rosenkranz „die 5 Wunden Jesu“ zu beten. Danach ging die andere Gestalt zum Chor hinter den Altar und rief in Richtung Josi: „Und jetzt noch „die 5 Wunden“ für den auf der Empore!“ Josi lief es kalt den Rücken hinunter. Er sagte sich: „Ich bin doch gesund, mir fehlt nix. Ich werde bestimmt noch nicht sterben!“ Es vergingen 6 Monate, bis ein Dorfbewohner starb. Es wurde Winter und siehe da, am Weihnachtsabend starb ein Zweiter. Josi dachte, dass sich die Vorhersage nicht erfüllen werde. Noch bevor der Kirchenchor das neue Jahr einsingen konnte, wurde Josi begraben.“
1850 wurde die Schulpflicht eingeführt. Davor konnten die meisten weder lesen noch schreiben. Das Gemeindehaus wurde für die Schulklasse um ein Stockwerk erweitert. Die Leute konnten aber rechnen und benutzten verschiedene Masseinheiten, zum Beispiel zur Berechnung der „Miete“ einer Alpweide für die Kühe. Die Burgergemeinde war die Besitzerin der Weiden. Als Einstandspreis zur Benutzung der Alpe und Anerkennung der Gemeinde bezahlte man 37.5 l Wein, in der damaligen Masseinheit mit einem „½ Lagel“ bezeichnet. Die Maultiere trugen den Wein in zwei länglichen Fässern, die je 1 Lagel fassten, insgesamt also 150 l pro Lasttier von Varen hinauf nach Albinen. Pro Sommer musste man ausserdem einen Tag auf der Alp arbeiten, wenn man seine Tiere dort weiden lassen wollte. Als Bestätigung dafür schnitt der Alpvogt eine bestimmte Einkerbung in ein flaches etwa 30 cm langes Holzstück, „Täslä“ genannt. Die Art der Kerben sagte aus, wie viele Rinder und Kälber man auf die Alpe treiben durfte. Auch konnte man Losholz aus dem Wald der Burgergemeinde und pro Jahr 4 Flaschen Burgerwein beziehen.
Damals wurden auch schlecht zugängliche Hänge von Hand mit Sensen gemäht, so dass die Landschaft sehr gepflegt aussah. Heute werden nur noch die leichter zugänglichen Hänge bearbeitet, sodass viele Bergweiden nicht mehr gepflegt sind und verkommen bzw. „verganden“. Im Sommer und Frühherbst haben wir in Leukerbad an Wochenenden bis zu drei Generationen beim Mähen der blumenreichen Weiden beobachten dürfen. Dies ist heute eher eine Seltenheit.
1723 wurde die Kirche gebaut, 1739 kaufte sich Albinen von Leuk los. 1906 gab es das erste Lebensmittelgeschäft, das vor allem Salz, Petrol und Tabak anbot. Heute befindet es sich im Besitz der Gemeinde und führt natürlich ein breiteres Sortiment. 1946 gab es ein starkes Erdbeben, das die Kirche, die der Schutzpatronin der Bergbevölkerung, der Heiligen Barbara, geweiht war, schwer beschädigte. Sie wurde notdürftig repariert. Die 1955 entstandene Strasse ins Tal ermöglichte den Bau einer neuen Kirche. Der damalige Pfarrer wünschte, dass sie die Form eines Schiffs ähnlich der Arche Noah haben und dem Bruder Klaus geweiht werden sollte. Die damals moderne Architektur war wohl für viele gewöhnungsbedürftig. Nach der Eröffnung berichtete eine Tageszeitung über „das gekenterte Schiff von Albinen“.
Den Worten Basils möchte ich noch Folgendes hinzufügen, was ich beim letztjährigen Vortrag von Bruno Zumofen in Leukerbad erfahren habe:
Bei den zahlreichen Bade- und Kurgästen waren Anfang des 20. Jahrhunderts die Albiner Blumenkinder sehr beliebt. Auf den schmalen Wegen nach Leukerbad pflückten sie einheimische Blumen, vor allem Alpenrosen. Diese verkauften sie in kleinen Schachteln den Gästen, die die Alpenflora per Post Bekannten und Verwandten in die ganze Welt verschickten. Manchmal verdienten die Blumenkinder pro Monat sogar mehr als der Familienvater. – Bevor es 1978 die Strasse von und nach Leukerbad gab, war die Benutzung der an den Felswänden fest installierten Leitern zur Überwindung der steilsten Wegstücke eine Selbstverständlichkeit. Heute gibt es immer noch 8 Leitern für schwindelfreie Wandernde. – Medizinisch versorgte sich die Dorfbevölkerung mit Heilkräutern. Es gab und gibt heute noch in Albinen einen Kräutergarten. Für schwerere Fälle kam ein Arzt aus dem Tal auf einem Maultier. Es soll einmal eine Hebamme gegeben haben, die auch gebrochene Arme und Beine richtig schienen konnte.
Am Anfang, in der Mitte und am Ende seines Vortrags spielt Basil Stücke auf seiner Mundharmonika. Er gibt auch noch weitere Dorfgeschichten zum Besten. Das meiste davon habe ich nicht verstanden, denn Basils Wallisertitsch, das man wohl eher als „Albinutitsch“ bezeichnen könnte, klingt für meine Ohren sehr ungewohnt. Sogar einige Walliser Gäste aus dem Tal hatten etwas Mühe damit. Doch haben wir alle seine anderthalbstündige Darbietung genossen, in der er uns in die Welt der früheren Generationen von „Albinu“ entführte. Da ich weder im Wallis noch in den Bergen, sondern in Luxemburg aufgewachsen bin, habe ich mir nicht eingebildet, dass ich diesen Vortrag ohne Fehler und Missverständnisse wiedergeben kann. So habe ich Basil Mathieu meinen Text mit der Bitte um Korrekturen per Post geschickt und ihm ein Treffen vorgeschlagen. Darüber hat er sich sehr gefreut. Bald sassen wir zusammen in einer Cafeteria in Leukerbad. Basil beantwortete meine Fragen und erklärte mir seine zahlreichen Berichtigungen, die er sorgfältig mit Rotstift angebracht hatte. Ich habe sie hier im Text berücksichtigt. Als Dank für meine Interesse schlug Basil vor, im Mai, wenn der Schnee geschmolzen sei, meinen Partner Georg und mich durch sein Heimatdorf zu führen und uns noch weitere Geschichten von Albinen einst und jetzt zu erzählen.
Foto: Albinen mit Blick auf das Rhonetal
und Text: Petra Dobrovolny