Kleiner Alltag und grosse Weltbühne
Am 26. Juni wird der kleine Platon 2 Jahre alt. Wenn er will, wird er immer noch liebevoll gestillt. Er gedeiht prächtig, ist nie krank, hat einen umwerfenden Charme und schaut oft wie ein Philosoph in die Welt. Jetzt beginnt er zu sprechen. „Njam, njam“ bedeutet Schokolade. „Daj, daj“ heisst „Gib her!“ Mein Partner Georg ist für ihn „Djeda“, sein Grossvater. Wie kam es dazu?
Anfang April 2022 nahm unsere Nachbarin eine ukrainische Familie auf, die von Mariupol im Osten der Ukraine in die Schweiz geflüchtet war: Die Grossmutter Larissa, Jg 1968, mit zwei erwachsenen Töchtern und deren Kindern. Die älteste heisst Veronika, sie war im 6. Monat schwanger und ist bereits Mutter der 12jährigen Tochter Xenia und dem 7jährigen Pavel. Die jüngere Tochter von Larissa, Kristina, kam mit ihren zwei Kindern, der Tochter Kyria (4) und dem Sohn Kostja (2).
Platon erblickte am 26. Juni 2022 im Inselspital Bern das Licht der Welt.
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Die Namen der Familie sind hier im Text verändert.
Mariupol liegt am Ufer des Asowschen Meeres und war bereits in der Antike eine bedeutende griechische Hafenstadt. Vor der russischen Invasion zählte sie 500’000 Einwohnende.
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Ende 2022 fuhren Larissa, Veronika und Kristina mit ihren jetzt insgesamt 5 Kindern zurück in die Ukraine. Sie fanden nicht so schnell eine Bleibe. Viele ostukrainische Familien sind vor den Russen in die Westukraine geflohen. Auch hier sind Städte teilweise zerbombt und viele Häuser unbewohnbar.
Larissa versuchte nach Mariupol – jetzt russisches Besatzungsgebiet – zu ihrem Mann zu kommen, der durch einen russischen Angriff mit Granaten verletzt worden war, jedoch überlebt hatte und nach einem Spitalaufenthalt wieder im eigenen durch den Angriff beschädigten Haus wohnt. Ersatzbauteile muss er bei den Russen bestellen und unterschreiben, dass sein Haus von der ukrainischen Armee beschädigt worden war. Das wollte er aber nicht unterschreiben, obwohl eine Reparatur dringend nötig wäre und seine Töchter und Enkelkinder unter diesen Umständen nicht dort wohnen können.
Kristina fand mit ihren zwei Kindern Unterkunft bei einer Freundin in der Nähe von Kiew. Veronika fuhr mit ihren drei Kindern zurück in die Schweiz. Ihr wurde eine Wohnung in derselben Gemeinde vermittelt, sodass sie von unseren Nachbarn unabhängig wurde und vorerst mal bis Ende 2025 selbständig wohnen kann. Die zwei älteren Kinder besuchen die hiesige Primarschule und erhalten zusätzlich online-Unterricht von einer Schule in der Ukraine. Xenia beendet diesen Sommer die schweizerische Grundschule. Pavel hat Anschluss zu anderen Fussball spielenden Buben gefunden. Beide Geschwister kümmern sich liebevoll um ihren kleinen Bruder Platon, der alle mit seinem Charme bezirzt.
In den vergangenen Osterferien waren sie wieder in der Ukraine, um den Vater zu besuchen. Auch Kristina und ihre Familie konnten sie wiedersehen. Deren Mann war kurz an der Ostfront im Einsatz und kam völlig traumatisiert zurück.
Georg besucht unsere Ukrainerinnen ein- bis zweimal pro Woche, bringt ihnen frischen Fisch vom Markt oder auch Obst wie Granatäpfel, Erdbeeren, Birnen usw. Pavel liebt besonders Karotten.
Die Kinder freuen sich schon darauf, den Vater in den Sommerferien wiederzusehen. An eine Rückkehr in die Ukraine ist aber noch nicht zu denken. Dort können die Schulen aus Sicherheitsgründen nur online-Unterricht anbieten. Mehrmals täglich tönen die Sirenen. Xenia hat mir auf ihrem Handy eine App, die rund um die Uhr den aktuellen Flugalarm in betroffenen Gebieten anzeigt. Veronika möchte ihre Kinder nicht dieser ständigen Traumatisierung aussetzen. Sie versucht ihnen den Alltag in der Schweiz so normal wie möglich zu gestalten.
Am Wochenende vom 15. und 16. Juni hat die Schweiz zu einer internationalen Konferenz, die auf den Frieden in der Ukraine hinwirken soll, auf den Bürgenstock bei Luzern eingeladen. Delegationen mit Staatsführenden und Medienleuten aus über 90 Länder kamen, China und Russland blieben fern. Die Kremlführung beeilte sich kurz vor der Konferenz ihre Vorstellung von Frieden zu kommunizieren: Die Ukraine solle auf östliche Landesteile wie Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson sowie auf die Krim verzichten und dürfe niemals ein Mitglied der NATO werden. Diese Mitteilung erfolgte nicht ohne „Begleitmusik“: Vom Kreml orchestrierte Medien behaupteten, die Schweiz würde Russland angreifen. Das Gipfeltreffen wurde lächerlich gemacht, um Delegationen anderer Länder von einer Teilnahme abzubringen. Viola Amherd, unsere die Bundespräsidentin und Gastgeberin auf dem Bürgenstock wurde als Satanistin und als eine Frau, die nur an Luxus und Selbstbereicherung denkt, diffamiert. Auch Cyber-Angriffe von russischer Seite auf die Konferenz fanden statt, wurden jedoch erfolgreich abgewehrt.
Dabei „vergisst“ die Kremlführung ihre eigene Unterschrift unter das Budapester Abkommen aus dem Jahr 1994 und damit die eigene Verantwortung. Damals verzichteten die Ukraine, Belarus und Kasachstan auf ihre Nuklearwaffen. Im Gegenzug wurden diesen Ländern die bestehenden Landesgrenzen garantiert. Dieses Abkommen unterzeichneten die Russische Föderation, die USA, UK, Frankreich und später auch China. Die Ukraine hat das Abkommen eingehalten und hat ihre nuklearen Waffen abgegeben. Die Kremlführung hat das unter Völkerrecht stehende Abkommen verletzt. Bis heute gibt es jedoch kein Gericht, das solche Vergehen bestraft. Die USA, UK und Frankreich stehen aber durch ihre Unterschrift in der Pflicht, die von der Kremlführung widerrechtlich angegriffene Ukraine zu verteidigen.
An der Konferenz auf dem Bürgenstock am Vierwaldstätter See hat die Weltöffentlichkeit zum ersten Mal gemeinsam und intensiv über einen Frieden in der Ukraine diskutiert. Das abschliessende Communiqué fordert die Respektierung international anerkannter Landesgrenzen und mahnt den russischen Präsidenten, dass jegliche Drohung mit nuklearen Waffen unzulässig sein. Indien, Saudi-Arabien und Südafrika unterschreiben dieses von der Mehrheit angenommene Communiqué nicht. Viola Amherd lässt als Fazit verlauten: „Wir haben erreicht, was zu erreichen war.“
Der beim Gipfeltreffen anwesende Staatschef von Lettland, Edgars Rinkevcs, ist von diesem Ergebnis positiv überrascht: Viele Länder, auch afrikanische, südamerikanische und asiatische, die sich auf diesem Gipfel einbrachten, stützen das Recht der Ukraine auf territoriale Integrität und das Recht sich zu verteidigen. Die Wahl des Ortes sei perfekt gewesen: Der Bürgenstock habe eine friedliche Ausstrahlung.
Während meiner Klangmeditationen in der Marienkirche Leukerbad habe ich in diesen Tagen meine harmonischen Klänge und Obertongesänge vor allem in Richtung Bürgenstock geschickt. Einmal kamen zwei Touristinnen, eine etwa 45jährige Mutter mit ihrer 25jährigen Tochter, beide hellblond mit für mich aussergewöhnlich hellen blauen Augen, setzten sich eine Weile in die hinterste Kirchenbank und lauschten. Dann zündeten die Tochter bei der Muttergottes eine Kerze an, und ich fragte die Mutter, woher sie kämen. Sie tat so, als verstehe sie mich nicht. Schliesslich fiel mir ein, was auf Russisch „woher“ heisst. Daraufhin antwortete die Tochter scheu: „We are from Russia!“ Ich wollte es genauer wissen, auch wenn es den beiden Damen peinlich zu sein schien. „From Northern Sibiria.“ Also von sehr weit weg. „Your music is beautiful!“ fügte die Tochter noch hinzu. Dann verliessen die beiden Damen sehr schnell die Kirche.
In den letzten Jahren kommen deutlich weniger russische Tourist*innen nach Leukerbad. Sie dämpfen ihre Stimme oder verfallen in ein Schweigen, wenn ich im Vorbeigehen den Augenkontakt suche und sie grüsse. Einen Gruss erwidern sie nicht und schauen weg.
Der deutsche Bauer Hubert Möhrle, der durch seine Landschaftsheilungen und „Humisal“ bekannt wurde, will versuchen, den russischen Präsidenten zu treffen, um ihm die Hand zu reichen. Dann gäbe es Frieden. Ich meine, dass bei einem solchen Treffen der kleine Platon auf dem Arm seiner Mutter unbedingt mit dabei sein sollte. Sein Lächeln wirkt entwaffnend und durch den Blick in seiner Augen erkennt der Betrachter sich selbst.
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Quellenangabe zum Bericht über das Gipfeltreffen auf dem Bürgenstock mit Interview mit dem Präsidenten von Lettland: Tageszeitung „Der Bund“ vom 17. Juni 2024, S. 1 bis 3.
Text und Foto: Petra Dobrovolny