Für den 13. Juni ist um 13.30 Uhr der Notartermin für die kleine Wohnung, die ich kaufen möchte, festgesetzt. Ich habe mir alles in meinen Gedanken schon ausgemalt: Die meistens Möbel werde ich vom Brockenhaus abholen lassen. – Zum besseren Verständnis für die Lesenden: In Leukerbad ist es üblich, dass Mobiliar und Inventar beim Wohnungskauf vom Käufer übernommen werden. – Danach werde ich den alten Teppichboden durch Laminat ersetzen und die Wände streichen lassen. Die Küchenschränke müssen auch erneuert werden. Meine Musikinstrumente wie Klangschalen, Monochords, Gongs, Trommeln, auch die Traumharfe haben in meinem Plan bereits ihren Platz gefunden. Meine Lampe mit den kosmischen Farben werde ich auf den Tisch vor das Fenster stellen. Passende Vorhänge habe ich noch auf Vorrat. Die Wohnung möchte ich für meine Meditationen und Kreationen benutzen und auch mal jemanden zu einer Therapiesitzung empfangen.
Nach vielen Regentagen scheint heute endlich wieder die Sonne. Ich freue mich darauf, den Notar und die Eigentümer der Wohnung, ein älteres Ehepaar, kennenzulernen. Auf dem Weg zum Büro der Immobilienmaklerin Frau B. an der Dorfstrasse, wo das Treffen stattfinden soll, schaue ich noch in die Kirche und bitte darum, dass alles nach göttlichem Plan verlaufen soll. Baulärm empfängt mich. Die Dorfstrasse ist aufgerissen, neue Rohre werden gelegt. Leukerbad setzt endlich ein schon lang geplantes Fernwärmenetz in die Tat um. Anstatt mit Heizöl sollen die Häuser mit dem Abwasser der Thermalbäder beheizt werden. Es wird gebaggert und gebohrt. Die Baustellen geben die Sicht frei auf ein Labyrinth mit neuen und alten Leitungen. Anwohnende balancieren über provisorische Stege aus Holzbrettern zu ihren Hauseingängen.
Die Verkäufer der Wohnung sind bereits vor mir im Sekretariat des Immobilienbüros eingetroffen. Herr G. streckt mir seine schlaffe Hand zur Begrüssung entgegen. Er scheint verwirrt zu sein, stellt sich weder vor noch spricht er mich mit meinem Namen an, sondern teilt mir mit: „Meiner Frau ist gerade schlecht geworden, sie musste sich übergeben. Das Mittagessen im Restaurant war zu salzig.“ Auf dem Sofa sitzt eine stöhnende Frau, die sich einen grossen Schal über den Kopf gezogen hat, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen kann. So ist es mir nicht möglich, sie zu begrüssen und kennenzulernen. Die Maklerin bittet den Notar, mich und meinen Partner Georg nach oben in den ersten Stock zu gehen und im Sitzungszimmer am Tisch Platz zu nehmen. Herr und Frau G. würden in Kürze nachkommen. Wir nutzen die Zeit, um den sympathischen jungen Notar kennenzulernen. Nach einer Viertelstunde teilt uns die Maklerin mit, dass sie mit Einverständnis von Frau G. sicherheitshalber den Rettungsdienst bestellt habe. Der Notar schlägt vor, dass er jetzt dem inzwischen ebenfalls anwesenden Herrn G. und mir den Kaufvertrag vorlesen werde. Nach unserer Unterschrift könnte die unpässlich gewordene Frau G., die immer noch im Parterre halb auf dem Sofa liegt, ihrem Mann die Vollmacht dafür geben, dass er den Kaufvertrag mit ihrem Einverständnis unterschrieben hat.
Der Baulärm auf der Dorfstrasse hält sich in Grenzen. Unter solchen Umständen habe ich noch nie einen Vertrag unterschrieben. Georg hat sich inzwischen verzogen, denn es brauche ihn nicht dazu. Wir hatten entschieden, dass die Wohnung auf meinen Namen in das Grundbuch eingetragen werden soll. Unterdessen trifft der Rettungsdienst mit einer fahrbaren Bahre ein, die er geschickt über die Stege der Baustelle balanciert. Der Notar begibt sich mit Herrn G. nach unten, um die Vollmacht auszudrucken, die Frau G. unterschreiben soll und auch möchte. Ich bleibe im Sitzungszimmer und warte ab. Nach weiteren 10 Minuten kommen der Notar und die Maklerin nach oben. Sie teilen mir mit, dass die Notfallärztin Frau G. als unzurechnungsfähig diagnostiziert hätte. Somit durfte sie die Vollmacht für ihren Ehepartner nicht unterschreiben.
Inzwischen wird Frau G. bereits auf der Bahre über die Gräben der Baustelle hinweg abtransportiert. Ihr verwirrter Mann begleitet sie ins Spital nach Visp. Er hatte sich nicht mehr von mir verabschiedet. Der Notar erklärt mir, dass der Kaufvertrag nicht zustande gekommen sei. Er müsste neu aufgesetzt werden, die Verkäufer Herr und Frau G. müssten nun beide der Immobilienmaklerin die Vollmacht zur Unterschrift geben. Ein nächster Termin sei nötig, denn ich müsste alles nochmal unterschreiben. Um mich zu trösten, fügt der Notar hinzu: „Das kann alles innerhalb einer Woche erledigt werden.“ Und er meint kopfschüttelnd, er habe noch nie erlebt, dass während eines Notartermins mit ihm die Ambulanz kommen musste. Auch ich habe so etwas noch nie erlebt. Allerdings erinnere ich mich an einen Vorfall aus dem Jahr 1991: Mein Bruder und ich hatten in Deutschland die Wohnung unserer verstorbenen Eltern verkaufen wollen und warteten mit der Maklerin beim Notar auf die Käufer. Diese erschienen jedoch nicht. Weder hatten sie den Termin vorher abgesagt noch sich nachträglich entschuldigt. Bei Notarterminen treffen die Lebenswege verschiedener Menschen, die sich vorher nicht gekannt hatten, aufeinander. Ich bin der Meinung, dass ein Liegenschaftskauf positiv verlaufen muss. Die Umstände rund um einem solchen Vertragsabschluss bestimmen das spätere Wohngefühl.
Der heutige Vorfall geschah völlig überraschend. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Eine höhere Macht hat eingegriffen. Frau G. hatte die Absicht zu unterschreiben, die Notfallärztin hat es verhindert. Darüber könnte ich mich aufregen oder mich über Frau G. oder die Ärztin ärgern und ihnen Vorwürfe machen. Doch stattdessen bin ich erleichtert und lasse los. Unter solchen Umständen wäre ich mit der Wohnung nicht glücklich geworden. Mein Georg tröstet mich: Es wird bestimmt bald eine neue und bessere Gelegenheit geben. Noch am Abend schreibe ich an den Notar, die Maklerin und die Verkäufer: „Unter diesen Umständen verzichte ich auf den Kauf der Wohnung.“
Text und Foto: Petra Dobrovolny
Von der Kunst eine Fahrkarte zu kaufen
Es gibt viele Gründe, um nach 4 Jahren wieder mal nach Bonn zu reisen. Oder besser gesagt, um es zu wagen zu reisen. Denn mit der Deutschen Bahn weiss man nie, ob man auch dort ankommt, wo man hinmöchte, geschweige denn in dem Zeitrahmen, den man sich vorgestellt hat. Mit der Besorgung unserer Fahrkarten begann bereits das Abenteuer. Es dauerte zwei Stunden. Zunächst versuchte ich mein Glück zuhause am PC. Nach einer dreiviertel Stunde gab ich auf: Es schien unmöglich an dem gewünschten Datum zur gewünschten Zeit von Bern nach Bonn zu fahren. Der Zug hält nicht in Bonn HB, sondern erst in Köln. Oder er hält nur Bonn-Beuel, eine Platzreservation kann ich nicht vornehmen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als unser Glück im Reisezentrum des Berner HB zu suchen. Nach einer viertel Stunde Wartezeit dürfen wir an den Schalter einer Dame, die nicht gerade einen kompetenten Eindruck macht. Sie sucht eine Weile im Internet und teilt uns schliesslich mit, dass es nicht möglich sei nach Bonn zu reisen. Wir müssten nach Köln. Ich entgegne, dass dies aber ein grosser Umweg sei. Sie findet das nicht, es seien doch nur 20 Minuten. Aber diese 20 Minuten müssten wir wieder zurückfahren, dies ergäbe dann 40 Minuten Zugfahrt ohne Sinn. Nach einer weiteren Suche teilt die Dame uns mit, dass wir nur nach Bonn-Beule fahren könnten. Ich mache sie darauf aufmerksam, dass es Beuel heisse, nicht Beule. Nach kurzer Überlegung findet auch Georg, dass wir wenigstens mal bis dorthin buchen sollten. Die Dame druckt uns eine Fahrkarte aus, die sogar eine direkte Hinfahrt von Bern nach Bonn-Beuel anzeigt, ohne in Basel umzusteigen. Nach weiteren 5 Minuten erhalten wir noch die Rückfahrkarte vom Bonner HB nach Bern mit Umsteigen in Basel und Platzreservation. Die Rückfahrt scheint einfacher zu sein. Unterdessen haben wir mindestens eine halbe Stunde in dem Reisezentrum verbracht. Ich muss jetzt ins Wallis und Georg möchte mich zum Zug begleiten. Der Dame am Schalter sagt er, dass sie inzwischen in Ruhe danach suchen könne, ob doch eine Platzreservation nach Bonn-Beuel möglich sei, er käme in etwa 10 Minuten wieder. Nach diesen 10 Minuten ist die Dame jedoch mit einem anderen Kunden beschäftigt und tut so, als hätte sie Georg noch nie gesehen. Ein anderer Kollege kümmert sich jetzt um unser Anliegen. Eine Platzreservation nach Beuel scheint weiterhin unmöglich zu sein. Wir sollten einfach einsteigen und schauen, wo es freie Plätze gäbe. Das wollen wir aber nicht, denn wir wissen, wie gut besetzt die Züge in den Norden sind. Am nächsten Tag geht Georg noch einmal ins Reisezentrum am Bahnhof. Er wendet sich direkt an den Mitarbeiter, der neue Kolleg*innen in die Geheimnisse der Kundenberatung einweiht. Innerhalb von 5 Minuten erhalten wir die gewünschte Platzreservation, und zwar nach Bonn HB, obwohl der Zug dort gar nicht hält. Die Reservation ist gratis. Immerhin …
Am 21. September finden wir tatsächlich unsere reservierten Plätze im EC von Bern nach Hamburg Altona, Bern ab um 13.04 Uhr. Laut der Informationstafel soll der Zug in Bonn HB halten. Wunderbar! Wir machen es uns gemütlich und freuen uns, dass wir in Basel nicht umsteigen müssen. In Basel hat der Zug etwa eine halbe Stunde Aufenthalt. Zeit genug, um noch etwas Proviant einzukaufen. Auf dem Bahnsteig kündigt die Infotafel an, dass der EC in Bonn-Beuel halten werde. Wir nehmen es gelassen. Gegen 15 Uhr nähern wir uns Freiburg. Hier steigen viele Leute ein. Karlsruhe, Mannheim. Die Hälfte unserer Reise ist geschafft. Mit 15 Minuten Verspätung. Mainz, Koblenz. Graue Wolken ziehen auf. In den Städtchen am Rhein entlang ist kein Mensch auf der Strasse zu sehen. Es kommt mir vor, als befände sich über der Landschaft eine riesige dunkelbraune Glasglocke, die alles Leben dämpft. Die Bahnstrecke säumen öfters Schrebergärten. Mir fällt auf, dass dort zahlreiche deutsche Fahnen wehen. Der Herr vom Empfang unseres Hotels sagt uns ein paar Stunden später, dass Deutschland in den letzten Jahren sehr nach rechts gerutscht sei. Es beginnt zu regnen, in Remagen wechselt der Zug die Rheinseite. Spätestens jetzt steht fest, dass er nicht in Bonn HB halten wird. Allmählich wird es dunkel, die Verspätung beträgt 30 Minuten. Der vorbeieilende Schaffner hat keine Lust, uns über die genauere Ankunftszeit in Beuel zu informieren. Wir stellen uns mit unserem Gepäck schon mal vor die Tür. Der Ec nimmt immer mehr an Fahrt auf, sodass wir befürchten, doch noch in Köln zu landen. Ein kleiner Bahnhof und ein stellenweise mit Gras bewachsener ungepflegter Bahnsteig kommen in Sicht, der Zug hält tatsächlich an. Es giesst in Strömen. Eine steile unbedachte Holztreppe führt zu einer Plattform über den Gleisen und auf der anderen Seite geht es ebenso steil hinunter. Mit unserem Gepäck schaffen wir das gerade noch. Ein netter Herr hilft einer gehbehinderten Dame mit ihrem Koffer. Sie nennt ihn einen Engel. Ein Taxi gibt es nicht, der nächste Bus zum Bonner HB fährt erst in 20 Minuten. Der Engel rät uns, die Strassenbahn zu nehmen. Er täte dies auch. Diese fährt in 2 Minuten und erreicht den Bonner HB in etwa 10 Minuten. Der alte Herr neben mir sagt: «Ich wohne jetzt seit 50 Jahren in Bonn. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Das ist nicht nur eine Schande für die Deutsche Bahn, sondern auch eine Schande für Deutschland.» Vor dem Bonner HB stehen zu unserer Erleichterung einige Taxis. Ich frage nach dem Preis zum Hotel Dreesen. «30 Euro», lautet die Antwort in gebrochenem Deutsch. Ich sage: «Wenn Sie wissen, wo das Hotel ist, dann steigen wir ein.» Ja, er wisse es, er sei schon mal dort gewesen. Nach 20 Minuten treffen wir im Rheinhotel Dreesen ein. Die Taxifahrt kostet 25 EUR.
Wir haben ein Doppelzimmer für drei Nächte reserviert. Ich frage, ob sie eine Suite mit mehr Platz hätten. Ja, sie hätten eine einzige Suite, und diese sei zufälligerweise gerade frei. Für uns um 20% günstiger. Der nette Herr vom Empfang zeigt uns die grosszügigen Räumlichkeiten mit zwei Balkons und lobt die wunderbare Aussicht auf die Drachenburg, den Drachenfels und den Petersberg, die jetzt in der Dunkelheit beleuchtet sind. Er schätze sich glücklich, einen so schönen Arbeitsplatz zu haben, wo wir jetzt ein paar Tage Urlaub machen dürften. Besonders schön seien die Sonnenaufgänge, ab morgen scheine wieder die Sonne. Wir sagen zu, lassen unser Gepäck in der Suite und eilen ins noch bis 21 Uhr geöffnete Restaurant, wo uns eine leckere Kürbiscremesuppe und ein Glas Bier erwarten.
Foto: Aussicht auf den Rhein vom Petersberg bis zum Drachenfels
und Text: Petra Dobrovolny