Am 20. November hielt Bruno Zumofen, der Experte für die Geschichte Leukerbads, wieder einen Vortrag. Im Januar 2023 durfte ich bei seinen Ausführungen über die alten Badner Familien einiges erfahren. Darüber habe ich am Anfang meines Tagesbuchs 2023 berichtet. Dieses Mal heisst das Thema „Weggeschichten“, und Bruno erzählt auf „Wallisertitsch“, ab wann es welche Wege von und nach Leukerbad gab, und wer sie wann benutzen durfte. Als historisches Dokument dient ihm „das weisse Buch“, worin der jeweilige Gemeindeschreiber in der Zeit von 1500 bis 1908 alle wichtigen Gegebenheiten aufgeschrieben hat. Die heutige Strasse von Leuk im Rohnetal bis hinauf nach Leukerbad gibt es seit 1850. Vorher gab es nur den schmaleren Römerweg. Kutschen fuhren bis 1915, danach gab es bis 1967 die Zahnradbahn, welche zum grossen Bedauern vieler von Bussen abgelöst wurde.
Alte Flurnamen entstammen dem frankoprovenzalischen Dialekt. Darin enthaltene Silben wie „plan“ bedeutet Ebene oder „prae“ bedeutet Wiesenmatte. Auch keltische Namen sind erhalten geblieben. „Leuk“ bedeutet Wiese, „Dala“ trüber Fluss, „Brig“ Brücke, „Wallis“ Tal der Römer. Die damalige Walliser Währung hiess „Mauriner Pfund“. Die Strasse zur Nachbargemeinde Albinen gibt es erst seit 1978. Vorher benutzten die Einheimischen nur die Leitern, die es heute noch gibt. Es war damals keine Seltenheit, dass auch 70- oder 80jährige Frauen die Leitern geschickt hinauf- und hinabkletterten. Auch Kinder und Tiere wie zum Beispiel Ziegen wurden auf dem Rücken über die Leitern getragen.
1232 wurde zum ersten Mal der Gemmipass und der Weg nach Kandersteg erwähnt. Dies war vor Inbetriebnahme der Lötschbergbahn 1913 und weiteren Strassen- und Tunnelbauten während vieler Jahrhunderte der kürzeste Weg vom Berner Gebiet ins Wallis. In der Mitte des Weges wurde 1742 eine Zollstation erbaut, die später in das Gasthaus «Schwarenbach» umgewandelt wurde. Mit dem aufkommenden Tourismus beherbergte es berühmte Persönlichkeiten wie Alexandre Dumas, Jules Vernes, Guy de Maupassant, Mark Twain, J.W. Goethe, Lenin, Pablo Picasso usw.
Gemäss dem «weissen Buch» wurde festgelegt, zu welcher Zeit der Weg zu den Gebirgsweiden für das auf- und absteigende Vieh reserviert war. Die damaligen Kühe waren kleiner und hatten kürzere Beine. Heute weiden im Sommer nur noch Schafe rund um den Daubensee beim Gemmipass. Der Alpabzug im September ist immer noch jedes Mal ein Volksfest.
1484 wurde der Grundstein zur St. Barbara-Kirche gelegt. Bisher waren die Gläubigen jeden Sonn- und Feiertag den 16 km langen Weg zu Fuss zur nächstgelegenen Kirche nach Leuk gegangen. 1501 weihte Bischof Matthias Schiner von Sitten die Kirche ein und erklärte Leukerbad zur selbständigen Kirchgemeinde. Um 1870 wurde die Kirche erweitert, um 90° gedreht und der heiligen Maria geweiht. Dank dem erfolgreichen bischöflichen Marketing für das Bäderdorf entwickelten sich die Besucherzahlen rasant. Aus dem Jahr 1533 gibt es folgende Weisung im „weissen Buch“: „Falls jemand sich nicht zu Kurzwecken oder zu Besuch von Verwandten oder als Handwerker mit einem Auftrag in Leukerbad aufhält, solle er nach drei Tagen befragt werden. Kann er keinen Grund angeben, so solle er sofort abreisen, damit nichts Böses geschehe.“ Eine Zuhörerin im Publikum meint, diese Bestimmung sollte man heute wieder einführen. 1779 wurde der erste Kupferstich der Umgebung von Leukerbad erstellt und in demselben Jahr besuchte Goethe das Dorf. Er genoss die „säuberlich gefassten“ Thermalquellen und bedauerte, dass er nicht genügend Zeit gehabt hätte, um die Einheimischen, die er als freundlich und ehrlich einschätzte, näher kennenzulernen. Zu der Zeit betrug die Einwohnerzahl etwa 500.
Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Albiner Blumenkinder bei den Kurgästen sehr beliebt. Auf den schmalen Wegen nach Leukerbad pflückten sie einheimische Blumen wie Edelweiss, Enzian und Silberdisteln. Diese verkauften sie in kleinen Schachteln den Gästen, die sie per Post Bekannten und Verwandten in die ganze Welt verschickten. Manchmal verdienten die Blumenkinder pro Monat sogar mehr als der eigene Familienvater.
Die Albiner Leitern gibt es heute immer noch. Sie bestehen aus Holz, und jede ist etwa 10 m lang und 1 m breit. Ich habe sie bis jetzt auf meinen Wanderwegen vermieden. Man muss schwindelfrei sein. Es ist einfacher hinauf- als hinabzuklettern.
Foto: Altes Haus in Albinen und Text: Petra Dobrovolny
13.09. Der erste Schnee
In der Nacht auf Freitag, den 13. September, fiel der erste Schnee auf die Blüten meiner Geranien. Im Verlaufe des Tages wurde es so stürmisch, sodass ich mich fragte, ob ab 17 Uhr überhaupt jemand das gemütliche Hotelzimmer oder die warme Ferienwohnung verlassen wolle, um zu meiner Klangmeditation „Dona nobis pacem“ in die Kirche zu kommen. Nach meinem Üben am früheren Nachmittag traf ich auf dem Nachhauseweg zwei ältere Ehepaare, die mit ihren Rollkoffern herumirrten. Sie waren froh, jemanden in der menschenleeren Gasse anzutreffen. Wo denn die Talstation der Gemmibahn sei, fragte mich ein Herr. Ich sagte, das sei noch mindestens eine Viertelstunde zu Fuss entfernt, warum hätten sie nicht den Bus oder ein Taxi beim Busbahnhof genommen. Von einem Bus hätten sie nichts gewusst und wollten jetzt weiter zu Fuss gehen. Schliesslich hätten sie genügend Zeit, die Seilbahn fahre erst um halb drei. Ich schüttle den Kopf: „Die bekommen Sie aber nicht mehr, es ist doch schon 5 vor halb drei! Doch es reicht bis zur nächsten um 3 Uhr. Ich zeige Ihnen eine Abkürzung und erkläre Ihnen den weiteren Weg. Woher kommen Sie?“ „Aus Basel! Wir haben die „Gemmi Lodge“ für das Wochenende gebucht. Bitte gehen Sie nicht so schnell, wir kommen kaum nach!“, sagt der Basler ausser Atem. „Sind Sie von hier?“ Als ich das bejahe, ruft er den anderen seiner Gruppe zu, die keuchend ihre Koffer bergauf hinter sich herziehen: „Das ist eine Einheimische! Ich gehe schon mal mit ihr voraus!“ Oben bei der Ringstrasse angekommen erkläre ich den weiteren Weg und verabschiede mich mit besten Wünschen für einen angenehmen Aufenthalt. Jedenfalls kann ich annehmen, dass diese Gruppe aus dem Flachland wohlbehalten an ihr Ziel kommen und beim sich bereits ankündigenden Schneesturm ein sicheres Dach über dem Kopf haben wird.
Fast wäre es einer Tourengruppe beim Aletschgletscher anders ergangen. Sie wurden vom Schneesturm überrascht, fanden die Hütte nicht mehr und mussten am späten Abend bei -10°C um Hilfe rufen. Der Rettungshelikopter konnte bei solchen Wetterbedingungen jedoch nicht starten. So entschied sich eine Gruppe ortskundiger Retter mit langjähriger Erfahrung trotz allem auf den Weg zu machen. Tatsächlich fanden sie die in Not Geratenen und konnten sie zur 200m entfernten Alphütte bringen, wo sie nach Mitternacht eintrafen. Am anderen Morgen brachte der Helikopter alle wohlbehalten ins Tal bzw. ins Spital, wo die Erfrierungen behandelt wurden. Dies ist ein Glücksfall. Es kommt auch nicht häufig vor, dass Retter unter solchen Bedingungen zu Fuss aufbrechen.
Zu meinem Erstaunen fanden trotz Schneesturm immerhin 15 Personen kurz vor 17 Uhr den Weg in die Kirche und lauschten, in dicken Wintermänteln eingepackt, andächtig meiner Klangmeditation. Am Schluss danke ich jedes Mal für den Besuch und gemeinsame Beten für den Frieden im Herzen und den Frieden in der Welt. Auch wenn es draussen noch so stürmt.
Foto: Georg Dobrovolny
Text: Petra Dobrovolny