In der Nacht auf den 13. September starb unsere jahrzehntelange Freundin Gisela im Alter von 92 Jahren. Sie sehnte sich schon lange nach ihrer Reise in die geistige Welt, um endlich wieder mit ihrem geliebten Lebenspartner, der bereits viele Jahre zuvor gestorben war, vereint zu sein. Da wir sehr herzlich mit Gisela und ihrer Familie verbunden sind, beschlossen Georg und ich zur Trauerfeier ins Tessin zu reisen. Am 19. September fand sie um 15 Uhr in Locarno statt. Es blieb uns danach nur kurz Zeit, um alle zu umarmen und um gemeinsam das Leben, zu dem das Sterben gehört, zu feiern und mit einem Glas Wein anzustossen. Giselas ältestem Sohn überreichten wir einen grossen Laib Leukerbader Alpkäse mit dem Auftrag, diesen unter den Geschwistern zu verteilen. Zur Feier des Lebens.
Den letzten Zug, der um 18.48 Uhr in Locarno abfuhr, wollten wir noch erreichen, um fahrplanmässig um 21.24 Uhr in Bern zu sein. Die hundertjährige Centovalli-Bahn brachte uns rüttelnd und quietschend durch die wilde Landschaft mit Viadukten über steilen felsigen Schluchten und durch Wälder mit alten Kastanienbäumen bis zum italienische Domodossola, wo wir in der Abenddämmerung eintrafen. In 10 Minuten sollten wir in den von Milano kommenden EC der Trenitalia nach Basel via Bern umsteigen können. Von dem EC war aber nichts zu sehen, die Ansagen blieben aus. Stattdessen fuhr auf dem für den EC vorgesehenen Gleis der von Spiez kommende und wieder dorthin durch den Simplontunnel fahrende Regionalzug ein. Wir dachten an den Spatzen in der Hand und stiegen in diesen Zug ein, in der Hoffnung von Spiez aus bestimmt irgendwann einen Zug nach Bern zu erwischen. Einige Fahrgäste denken ähnlich. Einige Minuten lang tut sich nichts, der Zug steht immer noch. Eine wohlbeleibte Schaffnerin, in der Schweiz Kondukteuse genannt, die im Eilschritt an uns vorbeiläuft, können wir anhalten und fragen, wann denn der Zug abfahre. Sie meint: «Haben Sie es pressant? Sind Sie auf der Flucht?» Ich sage: «Wir sind immer auf der Flucht!», worauf sie lacht und meint: «Haben Sie doch noch etwas Geduld!» Wir nehmen es mit Humor und Georg packt unseren zum Glück noch reichlich vorhandenen Proviant aus. Es folgt eine Durchsage: «Aus technischen Gründen kann dieser Zug seine Reise nicht fortsetzen. Bitte bleiben sie aus Sicherheitsgründen auf Ihren Plätzen sitzen.» Nicht nur wir, sondern alle weiteren Fahrgäste staunen über den Sinn bzw. Unsinn dieser Ansage. Wir packen den Proviant wieder ein und steigen aus, zumal wir sowieso nicht im richtigen Zug sassen. Auf dem Bahnsteig ertönt nach wenigen Minuten die Ansage, dass der EC aus Milano in Kürze auf Gleis 4 statt 2 mit Verspätung einträfe. Das bedeutet Treppen runter, Treppen rauf. Ein Schaffner sagt uns, dass es am Gleisende einen Lift gäbe, es sei aber nicht garantiert, dass dieser funktioniere. Solange wir den Bahnhof von Domodossola kennen – dies sind mehr als 50 Jahre, mussten wir mit mehr oder weniger Gepäck immer die Treppen nehmen. Tatsächlich: Der EC fährt ein, wir sind längst nicht die einzigen Fahrgäste, die ihn sehnsüchtig erwartet haben. Deswegen entscheiden wir uns für die 1. Klasse. Ein Abteil mit 3 Plätzen ist noch frei, in der 2. Hälfte des Waggons befindet sich eine Bar. Eine Durchsage kündet die Route an, der Zug werde in Bern halten. Weitere Minuten vergehen, es tut sich wieder nichts. Eine weitere Durchsage bittet uns Ausweise und Gepäck für die Zollkontrolle bereitzuhalten. Der Zug fährt immer noch nicht ab. Wir öffnen eine Tüte Pommes-Chips, Georg geht zur Bar und kommt mit einer kleinen Flasche Chianti biologico zurück. Eine Durchsage an die «gentili viaggiatori», die netten Reisenden: Wegen eines Hindernisses auf der Fahrbahn habe der Zug eine unbestimmte Verspätung. Bewaffnete Grenzpolizisten kommen vorbei, sie interessieren sich jedoch nicht für uns. Georg fragt einen von ihnen, ob sie wüssten, wann … «Nein», antwortet dieser, er habe mit dem Zug nichts zu tun, er sei Polizist. Der italienische Kondukteur scheint bald am Ende seiner Nerven zu sein. Er ist selbst nicht informiert, hat genug von den ständigen Fragen der Reisenden und wird ausserdem noch von einer bekifften jungen Frau umtanzt. Er schreit sie schliesslich an, wohin sie denn fahren wolle, doch sie lallt ihm lächelnd etwas Unverständliches entgegen. Mit ihren Smartphones in der Hand oder am Ohr entwickelt sich an uns vorbei eine Karawane von Fahrgästen, die an der Bar Proviant für die nächsten Stunden ergattern wollen. Es ist ein Hin und Her, eine Choreografie. Pina Bausch und ihr Wuppertaler Tanztheater hätten ihre Freude daran. Georg meint, dass dies aber ein langweiliges Stück sei, mit welchem wir hier unfreiwilliger Weise beglückt würden. Lieber geht er nochmal zur Bar. Dort ist inzwischen die online-Bezahlung ausgestiegen. Ein chinesischer Tourist meint, das sei ihm während seiner ganzen Reise noch nie passiert. Die Bardame erklärt ihm, dass wir im Moment in einem Tunnel seien, da könne das schon mal vorkommen. Georg berichtigt sie: «Wir stehen hier immer noch auf dem Bahngleis und sind noch nicht im Tunnel.» Die letzte noch vorhandene 3.5 dl-Flasche italienischen Rotweins einer etwas teureren Sorte, denn der billigere Chianti ist inzwischen ausverkauft – und das letzte Sandwich – vegan mit grünen Oliven und Tofu, das sonst niemand mehr wollte, das mir aber sehr gut schmeckt – kann Georg zum Glück bar bezahlen. Für unser leibliches Wohl ist also bestens gesorgt. Einen vorbeigehenden Grenzpolizisten fragen wir, ob noch die Aussicht auf eine heutige Weiterfahrt bestünde, oder ob wir uns ein Hotelzimmer in Domodossola suchen müssten. Mit erstaunlicher Klarheit antwortet er, dass wir heute noch weiterfahren werden, es sei nur eine Frage der Zeit. Allmählich ahne ich, was auf der Bahnstrecke passiert ist. Jemand hat seinem Leben wohl ein Ende bereitet. Dies bedeutet: Der Lokomotivführer des betroffenen Zuges – wahrscheinlich des Regionalzuges aus Spiez – konnte nicht weiterfahren, musste ausgewechselt und psychologisch betreut werden, die Strecke muss von Polizei und Notfalldienst wieder befahrbar gemacht werden usw. In Deutschland werden die Reisenden mit einer Durchsage, es sei ein Personenunfall passiert, informiert. Dies bedeutet meistens einen Fahrtunterbruch von 2 Stunden. In der Schweiz wird nur allgemein über eine «technische Störung» informiert, der Rest ist Schweigen. Inzwischen informiert der italienische Kondukteur verzweifelt die «gentili» Reisenden über 100 Minuten Verspätung. Die bekiffte Frau ist ausgestiegen und tänzelt lallend auf dem Bahnsteig vor unserem Fenster hin und her. Ob sie spürt, was passiert ist? Nach weiteren 6 Minuten setzt sich der Zug plötzlich in Bewegung, ohne diese Frau und ohne Vorankündigung. Über den Lautsprecher ertönt sodann voller Freude die Stimme des Kondukteurs. Die netten Reisenden werden informiert, dass die Strecke frei sei und der Zug eine Verspätung von 106 Minuten habe, wofür man sich entschuldige. Der nächste Halt sei Brig, dann Visp, Spiez, Thun, Olten, Basel. Ich spitze die Ohren: Ein Halt in Bern kam bei der Aufzählung nicht vor! Ich sage Georg, dass wir nachfragen müssten, denn theoretisch könnte der Zug von Thun direkt nach Olten fahren und Bern links liegen lassen. Doch der italienische Kondukteur muss wohl seine Nerven schonen. Er zeigt sich nicht mehr. Wahrscheinlich hat er genug von den Fragen der «gentili viaggiatori» nach deren aktuellen Anschlüssen. Die ausgefallene Fahrkartenkontrolle hat für uns zwar den Vorteil, dass wir den Zuschlag für die 1. Klasse vorläufig nicht bezahlen müssen. Das Display der Informationstafel im Zug zeigt immer noch, dass Bern ein Halt ist. Woher sollen wir wissen, was jetzt stimmt? Wir bitten die Engel um Hilfe, und siehe da, in Brig hält unser Zug auf der Höhe der Informationstafeln der Bahnsteige. Für unseren Zug wird auf der Tafel kein Halt in Bern angekündigt, dagegen bei dem bereits wartenden Zug auf dem Gleis gegenüber. Schnell packen wir unsere Sachen und steigen um in den wartenden Regionalzug nach Bern, der eigentlich gleich losfahren sollte. Wieder mal sind wir erleichtert, im richtigen Zug zu sitzen und nicht in Olten zu landen. Auch die Atmosphäre in diesem Zug ist viel ruhiger und nicht so chaotisch wie in dem EC. Nach einigen Minuten ertönt eine Durchsage: «Dieser Zug erhält eine Verspätung von 20 Minuten. Der Grund: Wir warten Anschlussreisende ab und bitten um Ihr Verständnis.» Der Vorfall hat eine Kette von Verspätungen zur Folge. Ein Trost: Wir werden tatsächlich heute noch ohne Umweg über Olten in Bern ankommen, um 23.40 statt um 21.24 Uhr. Vor Mitternacht fährt uns dort der Stadtbus in den Vorort von Bern, nach Bremgarten. Zu Hause fallen wir müde in unsere Betten, dankbar dafür, dass wir heil angekommen sind. Welch ein Tag! Wir haben das Leben gefeiert und das Sterben. Unsere Freundin hatte ihren Lebenskreis in Demut und Hingabe geschlossen. Die Engel führten sie ins Licht. Der mir unbekannte Mann auf der Bahnstrecke hatte nachgeholfen, aus welchem Grund auch immer. Ich bitte die Engel, ihm das Licht in der Dunkelheit zu zeigen. Möge auch er seinen Frieden finden. Und die heutige Lektion in Bezug auf den Zug des Lebens: Wenn du meinst, du sitzt im richtigen Zug, so könnte sich dies als Illusion herausstellen. Bleibe wach für ein rechtzeitiges Umsteigen.
Foto und Text: Petra Dobrovolny