Theorie und Praxis
Am 26. Juni 2024, hat die Tourismus-Organisation von Leukerbad „myleukerbad.ch“ Gewerbetreibende, Ferienwohnungsbesitzende und alle anderen Interessierten zum jährlichen Informationsabend über die „Marketingstrategie 2026“ und die aktuellen Entwicklungen eingeladen. Etwa 60 Leute sind in den Theatersaal des Schulhauses gekommen. Es verspricht ein interessanter Abend zu werden, an dem ich etwas über das Marketing dieser Tourismusregion erfahren kann. „Nachhaltigkeit“ ist das Hauptthema, auf Englisch „sustainability“. Studien sollen zeigen, dass Touristen zunehmend „nachhaltiger“ reisen möchten und sich beim Aussuchen ihres Reiseziels darüber informieren, ob und wie das zur Auswahl stehende Hotel oder auch die ganze Destination mit natürlichen Ressourcen umgehen, ob regionale Produkte und authentische Veranstaltungen angeboten werden. Demzufolge ist die Nachhaltigkeit zu einem wichtigen Faktor der Marketingstrategie geworden. Wie ich zu meinem Erstaunen erfahre, sei die Schweiz europaweit führend und hat dafür das Label „swisstainable“ kreiert. Gastronomische Betriebe können das Label oder Zertifikat für einen Jahresbeitrag ab 150.- CHF erhalten, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Geprüft wird auch, inwiefern das Personal in die Gestaltung betrieblicher Abläufe miteinbezogen wird und sich in Bezug auf die Nachhaltigkeit weiterbilden kann.
75% der Gäste, die nach Leukerbad kommen, stammen aus der Schweiz. Dies bedeutet, dass die Zeit der Schulferien die jeweilige Hochsaison bestimmt. Die meisten Gäste kommen in den Weihnachtsferien und in der sogenannten Sportwoche im Februar. Im Mai und Juni zieht es die Schweizer eher in den wärmeren Süden statt in die Berge. Die aktuelle Vermarktungsstrategie setzt also darauf, dass Leukerbad ständig, d.h. 365 Tage im Jahr, eine Feriendestination werden soll. Der September und Oktober haben hier eine gute Chance, besonders wenn über dem Mittelland und Norditalien Nebel liegt. Die Lücken in der jährlichen Auslastung könnten Gäste aus ferneren Ländern füllen. Jetzt peilt man Japan an, Marktanalysen geben Indien und China auch eine gute Chance. Asiatische Gäste sind jedoch anderes Essen gewohnt. Der Marketingchef von Leukerbad, Herr C.D. meint, dass die Hoteliers flexibel sein und zum Frühstück Nudelsuppe anbieten müssten. Ich habe bereits selbst gesehen, was ein Leukerbadner Hotel nach dem Besuch einer chinesischen Gruppe alles wegschmeissen musste. Dies sah nicht gerade nachhaltig aus.
Für die landesweite und die internationale Vermarktung von Leukerbad hat man sich der Organisation „Valais Wallis Promotion“, die 2012 gegründet wurde, angeschlossen. Diese hat für die Marke „Wallis“ das Motto „Wallis ins Herz gemeisselt“ lanciert. Der Gast soll das Wallis einfach lieben, es sich einprägen und nie mehr vergessen. Leukerbad wird mit dem Motto „Quelle zum Glück“ beworben, auf Französisch „Source de bonheur“.
Die hiesigen Marketingfachleute schwärmen von der Vielfalt, die Leukerbad zu bieten hat und meinen genau zu wissen, was der Gast hier sucht: Er wolle das Freiheitsgefühl auf einem Mountainbike geniessen oder tagsüber wandern und abends ins Thermalbad. Familien wollten „Action“ und Spass. Das alles in einer Kulisse mit natürlicher Schönheit. Dies wolle man fördern und unbedingt die Bike-Weltmeisterschaft nach Leukerbad holen.
In der anschliessenden Frage- und Antwortrunde wird eher die Skepsis des Publikums deutlich. Ein Landwirt möchte die für die WM geplante Route sehen, denn diese führe wahrscheinlich durch sein Gebiet und die Bikes würde nicht so schnell behebbare Schäden anrichten. Wie stehe es denn dann mit der Nachhaltigkeit? Antwort von Herrn C.D.: Wo es Einsprachen gäbe, würde dies bei der Routenplanung berücksichtigt. – Ich weise auf den Interessenkonflikt zwischen Wandernden und Bike-Fahrenden hin. Als konkretes Beispiel führe ich den Panoramaweg an. Besonders seit einem Jahr sind dort in der schneefreien Saison an Wochenenden immer mehr Leute auf Bikes und „Monster-Trotinettes“ unterwegs. Der Weg werde aber auch von Familien mit kleinen Kindern und von älteren Leuten benützt. Bereits mehrere Wandernde hätten mir gesagt, sie überlegten sich, ob sie das nächste Jahr wiederkämen. Früher sei es besser gewesen. Die Antwort, die ich von Herrn C.D. erhalte, lautet: Eine Mehrfachbenutzung auf Wanderwegen sei in der Schweiz prinzipiell erlaubt und meistens auch so signalisiert. Man müsse eben Rücksicht nehmen und miteinander reden. Er würde seit 20 Jahren Biken und hätte noch nie ein Problem gehabt. – Meine nächste Frage: Es gibt auch viele Gäste, die sich bei ihrem Aufenthalt in Leukerbad Ruhe und Erholung wünschen. Wie werden diese in das Marketingkonzept eingebunden? Die Antwort: Diese könnten dann kommen, wenn nichts liefe. Da würden sich die Hoteliers freuen.
Beim anschliessenden Apéro, zu welchem alle eingeladen sind, frage ich Herrn Caliesch, ob der Begriff „noise pollution“, also Lärmverschmutzung als Faktor bei der Nachhaltigkeit aufgelistet sei. Er meint, dass Leukerbad damit bestimmt kein Problem habe. Ich entgegne: „O doch, zum Beispiel auf dem Dorfplatz bei der Après-Ski-Apéro-Bar im Freien würden die Boxen voll aufgedreht.“ Er meint, wenn dies ein privater Betrieb mache, könne man dagegen nichts sagen. Und die Bar gäbe es nur eine Woche lang. Mein Gegenargument: Die erlaubte Grenze an Dezibel würde wahrscheinlich überschritten. Die Antwort: In diesem Fall müsste ich mich an die Gemeinde wenden und mich beschweren. Dann erzähle ich Herrn C.D., dass ich weltweit viel gereist sei, zum Beispiel sei ich auch auf Barbados in der Karibik gewesen. Dort gäbe es vor 2 Uhr nachts wegen zu lauter Musik keine Ruhe. Die Insel sei bekannt für „noise pollution“ und viele Gäste würden deswegen ihre Ferien nicht mehr dort verbringen. Stattdessen seien andere Inseln, die weder Internets noch Events hätten und gerade das als Marketingstrategie lancieren, ständig ausgebucht. Mein Gegenüber schüttelt den Kopf. Das sei für Leukerbad nicht möglich.
Von einem Bike-Verleiher werde ich gefragt, ob ich in Leukerbad ein Hotel führe. Meine Fragen seien so entschlossen und mutig gewesen. Ich antworte lachend, dass ich Psychotherapeutin sei und unterwegs gerne mit Leuten ins Gespräch käme. Ausserdem sei ich Klangtherapeutin, hätte sehr feine Ohren und würde in der Kirche Klangmeditationen anbieten. Ach so, meint er, dann sei ihm alles klar. Er gibt mir recht: Die Bike-Fahrenden hätten eine viel zu starke Lobby. Die Jungfrau-Bahnen zum Beispiel hätten die Regel eingeführt, dass Biker erst ab 16 Uhr auf die Kleine Scheidegg fahren dürften, wenn alle sonstigen Touristen bereits auf dem Heimweg seien. Leukerbad müsste Wandernde und Bike-Fahrende auf die Dauer auseinanderdividieren. Ausserdem meint er, dass Biker der Region nichts bringen. Sie seien meistens Tagesausflügler, die weder ein Restaurant noch ein Hotel beanspruchten. Er bekäme morgens von ihnen einen Anruf mit der Bestellung, ein Bike an einem bestimmten Bahnhof oder einer Bushaltestelle bereitzustellen. Dann würden sie die Route fahren, sich aus dem Rucksack verpflegen, abends das Bike am abgemachten Ort wieder hinstellen und mit dem Zug nach Hause fahren. Deswegen sei es unverständlich, warum Leukerbad Tourismus die Biker so stark fördere.
Zum Glück kann ich mich in meine Wohnung, die eine Oase der Stille ist, zurückziehen, wenn mir der Rummel im Dorf in der Hochsaison zu viel wird. Ich höre immer wieder von Leuten, die gerade wegen der Ruhe nach Albinen, dem Nachbardorf, umgezogen sind oder dort statt in Leukerbad ihre Ferien verbringen. Ruhe zu erleben ist vielen Menschen ein tiefes Bedürfnis. Oft sagen mir Gäste, die meinen Klangmeditationen in der Kirche zuhören: „Jetzt bin ich endlich zur Ruhe gekommen und dafür danke ich Ihnen.“ Seit heute weiss ich, dass meine Klangmeditationen sogenannte authentische Veranstaltungen sind. Somit leiste ich einen Beitrag zur Nachhaltigkeit der Destination Leukerbad.
Es stellt sich die Frage, wie realistisch die Marketingstrategie 2026, die auf Biker und asiatische Touristen setzt, für Leukerbad ist. Wie ich erfahren habe, sind Biker meistens Tagesausflügler, die weder Restaurants noch Hotels in Anspruch nehmen. Biker werde nicht verhindern, dass gastronomische Familienbetriebe oft schliessen müssen, weil die Nachfolge fehlt. Eines der ältesten Leukerbadner Hotels hatte versucht, sich in den letzten Jahren als Biker-Hotel zu profilieren. Jetzt steht es zum Verkauf ausgeschrieben. Zunehmend benützen Biker beliebte Wanderwege und werden zu einer Gefahr für Touristen, die die Stille der Berge geniessen möchten. Unfälle häufen sich auch bei Frauen und Kindern, die ihr Fahrzeug nicht richtig beherrschen. Sie fahren in grossem Tempo auf ihren Bikes oder „Monster-Trottinettes“ die Wanderwege bergab. Oft können sie nicht bremsen, weil ihnen die Kraft in den Händen fehlt. Auch die engen Gassen im Dorf bleiben von Bikern nicht verschont. Wer sollte auf wen Rücksicht nehmen? Ich habe schon mehrmals von langjährigen Stammkunden sowie von Familien mit kleinen Kindern gehört, dass sie sich überlegen, eine andere Feriendestination zu suchen.
Die Einzigartigkeit, im Marketing „USP“ genannt, von Leukerbad liegt sichtlich in der Schönheit der Natur und dem Thermalwasser, welches europaweit am reichlichsten sprudelt und bei vielen Krankheiten heilend wirkt. Warum setzt die Marketingstrategie auf Biker, die Stammgäste vergraulen? Hier wird eine Gästegruppe gefördert, die ihr Freiheitsgefühl auf Kosten von anderen auslebt. Es gibt genügend andere Regionen, die Bikerouten anbieten. Und asiatische Touristengruppen bleiben meistens in der Gruppe zusammen. Einzeln besuchen sie weder eine Cafeteria noch ein lokales Geschäft. Grosse Hotels profitieren von ihnen am meisten.
Auch stellen sich weitere Fragen:
Warum gibt es in Leukerbad weder eine Arzt- noch Zahnarztpraxis?
Warum gibt es keinen Obst- und Gemüsemarkt?
Warum wird eine derart realitätsfremde Marketingstrategie entwickelt?
Foto: Leeshörner bei Leukerbad
und Text: Petra Dobrovolny
Unwetter: Wer informiert rechtzeitig?
3. Juli: Die Folgen der Unwetter
Am vergangenen Wochenende haben Unwetter in der Schweiz grosse Schäden angerichtet, besonders im Tessin und im Wallis. Geröll-Lawinen von grossem Ausmass überraschten die Bevölkerung. Es gab auch Todesopfer. Plötzlich anschwellende Bergflüsse brachten Brücken zum Einsturz, ganze Täler wurden abgeschnitten. – Zwischen Visp und Leuk ist die Rhone über die Ufer getreten und hat viel Geröll und Sand auf den Bahngleisen hinterlassen. Die Linie Visp – Leuk ist unterbrochen, wie es Georg am Sonntag bereits vermutet hatte. Darüber wird erst am Montagmorgen ab 9 Uhr von den SBB informiert. Schnell entschliesse ich mich, meine Rückfahrt nach Leukerbad um einen Tag zu verschieben. Ab Dienstag soll gemäss SBB wieder alles normal funktionieren. Doch das Ausmass des Gerölls wurde unterschätzt. Die Arbeiten dauern länger. Im Zug von Bern nach Visp kann die Kondukteurin mir keine Auskunft darüber geben, wie ich nach Leuk komme. Ich solle mich im Bahnhof Visp erkundigen. Zwei junge chinesische Touristen fragen in gebrochenem Englisch nach der Verbindung nach Zermatt und erhalten auch dieselbe Auskunft: Im Bahnhof Visp sollten sie sich informieren. Eine deutsche Touristin schaltet sich ein. Sie selbst fahre auch nach Zermatt, sie sollten ihr folgen, es werde einen Ersatzbus geben. Doch die beiden Chinesen geraten in Panik und bereiten sich vor, bereits in Spiez auszusteigen, obwohl die Kondukteurin ihnen viermal gesagt hatte, sie sollten erst in Visp und nicht in Spiez aussteigen. Doch für chinesische Ohren klingen die Worte „Spiez“ und „Visp“ vielleicht zu ähnlich. Eine Schweizer Mitreisende zückt ihr Handy, ruft ihre Tochter an, bittet sie den Chinesen zu erklären, wie sie nach Zermatt kämen. Dann reicht sie ihr Handy einem erstaunten Chinesen mit den Worten: „My daughter speaks Chinese! Her husband is Chinese.“ Nach zwei Minuten Konversation auf Chinesisch beruhigen sich die zwei Touristen sichtlich, reichen der Mutter bzw. der Schwiegermutter eines Landsmanns ihr Handy wieder mit dem Kommentar: „Your daughter speaks very well Chinese!“
In Visp ertönt die Lautsprecherdurchsage mit Informationen zur Weiterfahrt. Genauere Auskünfte geben die mit Leuchtwesten bekleideten SBB-Angestellten auf dem Bahnsteig. Mir wird empfohlen, den Regionalzug nach Gampel-Steg zu nehmen und dort in den Ersatzbus nach Leuk umzusteigen. Es bleibt nur die Frage, ob ich den Verbindungsbus nach Leukerbad erwische. Alles geht gut, ich treffe sogar eine Leukerbadner Bekannte, die im Spital Visp arbeitet. Sie hilft mir in Gampel-Steg mit meinem Gepäck die Treppen herunter und hinauf zum Bus. Wie geplant treffe ich in Leukerbad ein und erreiche auch noch den lokalen Bus, der mich fast bis zur Haustür bringt.
Georg meint, dass Viola Amherd, Bundesrätin und Chefin des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS für eine bessere Information der Bevölkerung sorgen solle, anstatt selbst ins Wallis und ins Tessin zu reisen, um sich die Schäden anzusehen. Er schreibt eine Mail mit der Anfrage an das VBS mit der Frage, wann die Bevölkerung besser informiert werde. Eine Antwort erhalten wir nach zwei Wochen:
Es sei die Sache des Kantons Wallis die Bevölkerung zu informieren. Auf der App „Unwetteralarm Schweiz“ könnte man schweizweit immer nachschauen, was passiert. Die SBB täte ihr Möglichstes, um ihre Kundschaft über Apps aktuell zu informieren.
Am 3. Juli schreibt die Neue Zürcher Zeitung: Die Schweiz hinkt den EU-Ländern in Bezug auf die Alarmierung der Bevölkerung über drohende Naturkatastrophen hinterher.
Foto und Text: Petra Dobrovolny
Kulturweg Dala – Raspille: Auf Goethes Spuren
Am 3. Juni 2023 wird der bereits bestehende und jetzt neu beschilderte Kulturweg von Leukerbad an der Dala nach Salgesch an der Raspille im Rhonetal mit einer Wanderung feierlich eingeweiht. Schon Mitte Mai hatte ich mich dazu angemeldet und freute mich sehr auf dieses für mich ungewöhnliche Abenteuer: Mindestens 15 km Fussweg mit einer Höhendifferenz von 800 m in Begleitung von 100 Mitwandernden stehen mir bevor. Die Teilnahme ist dank grosszügigem Sponsoring gratis, eine Spende der Wandernden für den zukünftigen Unterhalt des Kulturwegs ist jedoch willkommen. Der blaue Himmel verspricht den schönsten Tag der Woche, ab 11 Uhr sind jedoch Gewitter vorausgesagt. So packe ich Regenjacke und Knirps in meinen Rucksack, auch eine Thermosflasche mit Tee und einen Apfel. Für weiteres Proviant soll unterwegs dreimal gesorgt sein. Um 8 Uhr mache ich mich auf den Weg zur Sportarena von Leukerbad. Von hier aus sollen nach einem Café und Gipfeli die 100 Angemeldeten starten. Die Gemeindepräsidenten von Leukerbad und Salgesch sowie der Präsident der «DalaKoop», einer Kooperation für interkommunale Zusammenarbeit der Gemeinden Leukerbad, Inden, Varen und Salgesch, heben in ihren Reden die Bedeutung des Kulturwegs und dieses Events hervor. Der Pfarrer von Leukerbad, Frank Sommerhoff, spricht kurz über das Unterwegssein in Gottes Natur, die die Seele beim Wandern erfreue. Wegen des schlechten Mikrofons sind die Worte der Redner nur schlecht zu verstehen. In freudiger Erwartung begeben wir uns zum ersten neuen Wegweiser hinter der Sportarena und am Anfang des «Römerwegs». Der Pfarrer bittet die Erzengel und die Heiligen um Schutz für alle, die auf diesem Weg wandern werden, segnet das neue Schild mit Weihwasser, und meint sodann, es sei eigentlich wichtiger, die Wandernden zu segnen. So bekommen wir auch noch ein paar geweihte Wasserspritzer ab. Danach werden wir in drei Gruppen mit je einem Führer eingeteilt und machen uns gutgelaunt und erwartungsvoll auf den Weg. Nach ein paar hundert Metern hält unser Wanderleiter Anselmo Loretan kurz an, um uns etwas über die geologischen Verhältnisse des so reichlich fliessenden Thermalwassers von Leukerbad zu erklären. Regen- und Schneewasser sammelt sich oben im Wyss See neben dem Gipfel des Torrent in etwa 2300 m Höhe, sickert durch den Kalkstein in den Berg, fliesst bis zu 2500 m unter die Erde. Dort zirkuliert es 40 Jahre lang, nimmt verschiedene Mineralien und vor allem auch die Wärme der Erde auf, bis es in Quellen austritt und zu vier Hotels sowie zur «Therme Leukerbad» geleitet wird. Letztere wurde zunächst von zwei Quellen versorgt, bis nach dem Erdbeben im Jahre 1946 eine dritte hinzukam. Letzteres wusste ich bis jetzt nicht.
Weiter geht es in zügigem Tempo an einem grossen Keltenstein vorbei bis zum nächsten Dorf, Inden genannt. Pünktlich treffen wir zur Weisswein-Mehl-Suppe – nicht jedermanns Geschmack – um 10.45 Uhr beim Dorfladen, dem ehemaligen kleinen Bahnhof der Zahnradbahn, die von 1915 bis 1967 von Susten im Tal bis nach Leukerbad fuhr. Damals baute man die Strasse aus und empfand die Bahn als Behinderung für den Autoverkehr. Heute wird die Entscheidung diese Bahn abzuschaffen, sehr bereut. Sie könnte auch heute mit erneuerbarem Strom aus Wasserkraft betrieben werden und wäre eine noch grössere Touristenattraktion als damals. Vielleicht kommt jemand mal auf die Idee eine Seilbahn von Susten nach Leukerbad zu bauen. Damit könnte auch der Transport der riesigen Abfallmenge, die die Tourist*innen hinterlassen, von «der Strasse auf das Seil» verlagert werden.
Aus einem riesigen Suppenkessel, der über einem Feuer hängt, wird jedem Gast Suppe in den Teller geschöpft. Auch reichlich Brot und Käse wird angeboten. Die bereitstehenden Holzbänke und -tische sind bald besetzt, nette Einwohnerinnen von Inden – Würde man sie als «Inderinnen» bezeichnen? – schenken emsig Walliser Johannisberg-Wein und Wasser ein. Nach einer dreiviertel Stunde ertönt ein Pfiff aus der Trillerpfeife unseres Wanderleiters Anselmo zum Aufbruch zur zweiten und anstrengendsten etwa 1 ¼ -stündigen Etappe hinunter nach Varen im Rhonetal. Der Weg führt hinter Inden an einem ehemaligen Kalkbrennofen und an weiter an sehr steilen Felswänden entlang. Gemäss Anweisung sollen wir zügig in einer Einerkolonne marschieren und nicht zum Fotografieren stehen bleiben. Steinschläge seien zwar selten, aber nicht auszuschliessen. In einer Kurve, hinter der der Weg die Dala-Schlucht verlässt, hält Anselmo im Schatten der Bäume an, um uns von Goethe zu erzählen, der vor 250 Jahren denselben Weg in Gegenrichtung gewandert war. Hier beim Bildstock mit der kleinen Marienfigur hatte er einen Halt eingelegt, um den Blick nach oben zum malerisch gelegenen Inden zu skizzieren. Eine Kopie dieser sehr gekonnten Skizze reicht Anselmo herum. Alle staunen, denn abgesehen von der Hochspannungsleitung und einem Baukran sieht diese Aussicht heute noch genau gleich aus wie damals. Es soll bekannt sein, dass Goethe die erste Nacht, die er in Leukerbad verbrachte, wegen der vielen Stechmücken kaum schlafen konnte. Heute würde dies nicht passieren, denn es gibt in dieser Höhe fast keine Stechmücken mehr.
Anselmo verspricht uns einen gemütlichen Abstieg nach Varen, einem Winzerdorf, wo um 13 Uhr das Mittagessen mit Raclette auf uns wartet. Nach «Goethes Kurve», vielleicht wird sie offiziell mal so benannt, Richtung Rhonetal mit Blick auf den Pfynwald, macht sich die Mittagshitze unbarmherzig bemerkbar. Die alpine Flora wechselt zu einer mediterranen. Heute wird es einen ersten Hitzetag mit 30°C geben. Wir verlassen den schattigen Wald, denn unser Abstieg führt uns nun durch die Reben, die die Sicht auf das breiter werdende Tal Richtung Siders und Sitten im Südwesten freigeben. Besonders mein linkes Knie meldet sich, wenn auch leise. Es hat bereits 600 m Abstieg hinter sich. Ich bereue, dass ich statt meiner Wanderstöcke einen Regenschirm mitgenommen habe. Zum letzten Mal, wie ich mir schwöre. Goethe hatte bestimmt zumindest einen Wanderstock dabei. Besonders auf den Schotterwegen kann man leicht auf den flachen Schiefersteinen ausrutschen. Schliesslich kommen wir bei einer Sporthalle an, neben der auf dem inzwischen vor Hitze glühenden Asphaltplatz Holztische und -bänke auf uns warten. Der Raclettekäse muss von den freundlichen Gastgebern erst gar nicht lange geschmolzen werden. Die Warteschlange kommt zügig voran. Mit einem Kartonteller in der Hand, der mit zwei Pellkartoffeln – in der Schweiz «Gschwellti» genannt, sauren Gurken, Silberzwiebeli und zerlaufenem Käse beladen wurde, sowie einem Glas Walliser Weisswein, suche ich mir einen Schattenplatz unter dem Dachvorsprung der Turnhalle und setze mich einfach auf den Boden. Einige Mitwandernde machen es mir nach und so geniessen wir trotz diesen Umständen gut gelaunt unser wohl verdientes Mittagessen. Inzwischen verbreitert sich der Schatten des Vordachs zusehends, denn die Sonne hat ihren höchsten Punkt überschritten. Kurzerhand verschieben ein paar kräftige Männer die langen Bänke und Tische zur Wand der Turnhalle, so dass niemand mehr beim Essen auf dem Boden sitzen muss. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden verlässt nach dem Mittagessen die Gruppe, um sich mit dem Bus nach Leuk und weiter auf den Heimweg zu begeben. Die meisten Mitwandernden wohnen im Rhonetal, in den Kantonen Bern, Luzern oder woanders und waren zum Start der Wanderung mit dem Bus nach Leukerbad gekommen. Einige wohnen auch in Salgesch, wohin die restliche Gruppe um 14.30 Uhr von Varen aus aufbricht. Angekündigt wird uns eine gemütliche Wanderung entlang der Suonen, wie im Wallis die Wasserkanäle aus dem 13. Jahrhundert genannt werden. Auf Madeira heissen sie «Levadas». Sie sorgen auch heute noch für eine gerechte Verteilung des Wassers durch Felder und Rebhänge. In Aussicht gestellt wird uns auch eine riesige Crèmeschnitte vor dem Weinmuseum im Zielort Salgesch. Die folgenden 1 ½ Stunden erscheinen mir ziemlich lang und mühsam. Zunehmend spüre ich meine Müdigkeit und mein linkes Knie. Doch die Schönheit der Landschaft und das kühle Wasser in den Suonen lassen mich durchhalten. Gewitterwolken türmen sich über den Bergen auf und warten geduldig, bis ich wieder sicher zuhause in Leukerbad angekommen sein werde. Mein Regenschirm wird unbenutzt im Rucksack bleiben. Der Abstieg nach Salgesch, dem grössten Winzerdorf im Wallis – 40 Winzerunternehmen, überwiegend von Familien geführt –, ist sehr steil. Neben uns fliesst ein kleiner Bergbach munter hinunter: die Raspille. Deswegen heisst dieser Kulturweg «von der Dala bis zur Raspille», die die Sprachgrenze zwischen dem Wallisertitsch des Oberwallis und dem Französisch des Unterwallis bildet. Anselmo erzählt uns noch, dass sich Probleme mit dem Nachwuchs auch in Salgesch zeigen. Viele Rebberge werden vermietet oder als teure Grundstücke an eine reiche Kundschaft aus dem Ausland verkauft. Grosse Villen mit nicht hierher passender moderner Architektur verschandeln an einigen Stellen bereits die Landschaft. Im Namen der Gruppe bedankt sich ein älterer Mitwandernder bei Anselmo für die kompetente und umsichtige Führung. Müde und zufrieden treffen wir beim Weinmuseum, das bereits geschlossen hat, in Salgesch ein. Bis zum nächsten Zug nach Leuk bleibt gerade noch genügend Zeit, um bei den wieder für uns bereitstehenden Bänken und Tischen eine süsse Crèmeschnitte – drei Blätterteigschichten mit Vanillecrème dazwischen – zu vertilgen und dem Team von Leukerbad-Tourismus herzlich für die ausgezeichnete Organisation dieses historischen Tages zu danken. Beim Bahnhof Leuk hat die kleine Gruppe aus Leukerbad direkten Anschluss an den Bus. Gegen 17.30 Uhr treffen wir im heimatlichen Busterminal ein. Um 21 Uhr entladen sich die ersten Gewitterwolken, die dank dem Segen des Pfarrers und dem Schutz der Heiligen sowie der Erzengel so lange gewartet hatten. Niemand hatte auf dieser Wanderung einen Unfall erlitten, niemand einen Hitzeschlag. Zu meinem Erstaunen hatte ich die für mich ungewohnten kulinarischen Ereignisse bestens vertragen. Wegen des Walliser Weissweins oder des Schutzes eines Heiligen? Wer weiss… Dankbar und erschöpft falle ich ins Bett. Diese Wanderung war ein einmaliges Erlebnis, das ich sicher nie vergessen werde, aber sicher nicht in dieser Form wiederholen werde. Im Prospekt steht: «Der Kulturweg Dala – Raspille beeindruckt durch das Wechselspiel der vielseitigen Natur- und Kulturlandschaft.» Auch wenn dieses Wechselspiel dann nicht so beeindruckend ist, lässt sich dieser Weg wegen der guten Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr ohne weiteres in drei oder vier einzelne Etappen aufteilen. Unbedingt mit Wanderstöcken, nicht unbedingt mit Weissweinsuppe, stattdessen lieber mit Besuch eines Weinkellers und des Weinmuseums. Und wegen des Muskelkaters ist ein Besuch der Therme spätestens am darauffolgenden Tag sehr empfehlenswert. Man kann auf Goethes Spuren nicht nur wandern, sondern auch baden. Dies wird bestimmt bei der nächsten Auflage des Prospekts drinstehen. «Goethes Kurve» vielleicht auch.
Foto: Blick vom Dala-Tal ins Rhonetal auf Susten, rechts im Bild der Kulturweg entlang der steilen Felswand
und Text: Petra Dobrovolny